Warum Thermische Prozesssicherheit?

Am 4. August 2020 explodierte im Hafen von Beirut ein Lagerhaus mit Ammoniumnitrat. Die Explosion zerstörte weite Teile des Hafens. Insgesamt wurden mehr als 200 Menschen getötet und ca. 7000 verletzt [1]. 
Thermische Sicherheit bezieht sich nicht nur auf die Produktion, sondern auch auf die Lagerung und den Transport von Chemikalien.

Beherrschung der Reaktionsgefahren in der Pharma-, Chemie-, Lebensmittel-, Agrarindustrie

Seveso 1976, Bhopal 1984 − zwei Chemieunglücke riesigen Ausmaßes, die auf unkontrollierte exotherme chemische Reaktionen, sogenannte Thermal Runaways, zurückgehen.

Was versteht man unter Thermal Runaway (deutsch: Thermisches Durchgehen / Thermal runawayEin thermisches Durchgehen ist eine Situation, in der ein chemischer Reaktor bezüglich der durch die chemische Reaktion verursachten Temperatur- und/oder Druckerzeugung außer Kontrolle geraten ist. Die Simulation eines thermischen Durchgehens wird in der Regel mit einem Kalorimeter gemäß der Accelerated Rate Calorimetry (ARC) durchgeführt.Thermisches Durchgehen):
Thermal Runaway oder thermisches Durchgehen (manchmal auch thermische Explosion genannt) bezeichnet eine Überhitzung aufgrund eines sich selbst verstärkenden/sich selbst beschleunigenden exothermen Prozesses. Die Geschwindigkeit der Wärmeproduktion ist dabei größer als die Geschwindigkeit der Wärmeabfuhr, was dazu führt, dass die Temperatur (und als Folge davon auch der Druck) in einem Reaktionsgefäß kontinuierlich ansteigt. Die Konsequenz von Thermal Runaway-Reaktionen sind potentiell Brände und/oder Explosionen, die giftige Gase freisetzen und Menschenleben gefährden können.     

Die Freisetzung von Methylisocyanat aus einem Werk von Union Carbide, das Schädlingsbe-kämpfungsmittel produzierte am 3. Dezember 1984 in Indien wird manchmal sogar als „verheerendsten Chemiekatastrophe der Geschichte“ bezeichnet. [3] Tausende Menschen starben an den Folgen dieses Unfalls.

Das Unglück in Seveso ereignete sich am 10. Juli 1976 in der chemischen Fabrik Icmesa in Meda in der Nähe von Mailand/Italien und führte zur massiven Freisetzung des Dioxins TCDD (chemisch: 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin) [4]. Es ist Namensgeber der Seveso-III-Richtlinie genannten europäischen Vorschrift 2012/18/EU „zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen“.

Derartig schwere Unfälle geschehen glücklicherweise sehr selten, es kommt aber immer wieder zu kleineren Störfällen. So sind ca. 25 % der Vorkommnisse in der französischen Chemieindustrie zwischen 1974 und 2014 auf Thermal Runaway-Reaktionen zurückzuführen [5]. In China waren in der Zeit zwischen 1984 und 2019 Thermal Runaway-Reaktionen für 271 Störfälle verantwortlich [6]. In den USA kam es im Zeitraum zwischen 1985 und 2001 zu 167 Zwischenfällen, die mit Thermal Runaway-Reaktionen in Verbindung standen [7]. 

In jüngster Zeit machen vor allem Thermal Runaway-Reaktionen in Lithium-Ionen-Batterien Schlagzeilen, die in E-Autos, E-Bikes oder E-Scooters eingesetzt werden. Im Juli 2023 brach ein Feuer auf einem Autotransporter mit 3000 Fahrzeugen nahe der niederländischen Küste aus.

Was ist Thermische Prozesssicherheit?

Ziel der Thermische Prozesssicherheit ist es, chemische Reaktionen kontrolliert ablaufen zu lassen und ein Durchgehen (Thermal Runaway) zu verhindern.

Risikoanalyse als wichtiger Punkt

Um das oben genannte Ziel zu erreichen, müssen die Risiken einer chemischen Reaktion bzw. der eingesetzten Chemikalien systematisch ermittelt und beurteilt sowie geeignete Maßnahmen zur Minimierung der Gefahren abgeleitet werden. Das geschieht in einer detaillierten Risikoanalyse, die z.B. durchgeführt wird

  • Bei Einführung eines neuen Syntheseverfahren (Scale up)
  • Bei Änderung/Optimierung eines bestehenden Prozesses hinsichtlich
    • Menge und Art der Reagenzien
    • Menge und Art der Lösemittel
    • Zugabesequenz
    • Prozessbedingungen
  • Bei Verlagerung des Produktionsstandortes
    • von einem Reaktor zu einem anderen
    • von einem Werk zu einem anderen oder
    • von einem Land zu einem anderen

 

Von der Entwicklung bis zur Produktion nehmen die Materialmengen vom mg- bis zum kg- oder sogar Tonnenmaßstab zu. In gleicher Weise erhöhen sich auch die Gefahren beim Umgang mit brennbaren Lösungsmitteln und energetischen Stoffen/Reaktionen.

Was kann passieren, wenn eine Reaktion außer Kontrolle gerät, z.B. aufgrund des Ausfalls einer Kühlung?

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Um potenzielle Gefahren, Risiken und Gefahren für die Arbeitsumgebung zu identifizieren, zu quantifizieren und zu verstehen, können unterschiedliche Techniken und Modelle herangezogen werden.  

Safety First! – Bestimmung von Schlüsselparametern

Die European Federation of Chemical Engineering (EFCE) definiert den Begriff „Risiko“ als Maß für das Schadenspotenzial und die Schädigung von Umwelt bzw. von Personen in Bezug auf Wahrscheinlichkeit (Probability) und Schwere (Severity).

Dieser Zusammenhang wird häufig in Form folgender Gleichung ausgedrückt:

Risiko = Schwere x Wahrscheinlichkeit                                                                      [8] 

Um die einem Prozess innewohnenden Schwächen zu ermitteln, werden Störfallszenarien beschrieben und hinsichtlich der zu erwartenden Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit ausgewertet. Das Ergebnis kann eine Risikomatrix sein.

Beispiel für die Kriterien einer Risikobewertung (nach [9]):

Schwere: Je höher die Temperatur, desto höher der Druck, desto höher der zu erwartende Schaden

Wahrscheinlichkeit: Je kürzer die Zeit, die verbleibt, um eine sichere Situation wieder herzustellen, desto größer die Wahrscheinlichkeit für das thermische Durchgehen einer Reaktion

 

ΔTad steht dabei für den Temperaturanstieg unter adiabatischen Bedingungen und ist ein Maß für die Folgen einer Runaway-Reaktion; TMRad steht für die Time-to-Maximum-Rate unter adiabatischen Bedingungen.

Was versteht man unter adiabatischen Bedingungen?
AdiabatischAdiabatisch beschreibt ein System oder einen Messmodus ohne Wärmeaustausch mit der Umgebung.Adiabatisch bedeutet: kein Wärmeaustausch eines Systems mit seiner Umgebung. 
Kann Wärme während einer exothermen Reaktion nicht abfließen, stellt dies den Schlimmstfall (Worst-Case-SzenarienIm Zusammenhang mit einem chemischen Reaktor ist ein Worst-Case-Szenario die Situation, in der die durch die Reaktion verursachte Temperatur und/oder Druckerzeugung außer Kontrolle gerät.worst-case -scenario) dar. Die gesamte durch die Reaktion freigesetzte Energie erhöht die Temperatur des Systems.

Was ist TMR?
Die Time-to-Maximum-Rate ist die Zeitspanne zwischen dem Beginn einer Runaway-Reaktion und dem Punkt der maximalen Reaktionsgeschwindigkeit. Oder in anderen Worten: die Zeitspanne, die eine thermische Explosion benötigt, um sich zu entwickeln.

Nach der Van´t Hoff-Regel verdoppelt sich die Reaktionsgeschwindigkeit bei einer Temperaturer-höhung um 10 K [8].

TMR ist eine Zeitangabe, bei TMR24h (oder TD24, D = decomposition) handelt es sich dagegen um eine Temperatur: die Temperatur, bei der TMR 24 Stunden beträgt. Manchmal werden jedoch auch andere Zeiten als Berechnungsgrundlage verwendet, z.B. 8 Stunden als Maß für eine Schicht.

Beispiel eines Flussdiagramms zur Bewertung chemischer Gefahren (nach [10]):

Methoden zur Thermischen Analyse (Dynamische Differenzkalorimetrie, Thermogravimetrische Analyse, Adiabatische Kalorimetrie) dienen der Beurteilung der thermischen Stabilität.

 

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Für Studien zur Bewertung thermischer Gefahren ist die dynamische Differenzkalorimetrie (englisch: Differential Scanning Calorimetry, DSC) die am häufigsten eingesetzte Methode. Ebenfalls zum Einsatz kommt die Accelerating Rate Calorimetry (ARC®) (siehe Flussdiagramm).

Das Multiple Module Calorimeter Multi-Modul Kalorimetrie (MMC)Das Multi-Modul-Kalorimeter (MMC) besteht aus einer Basiseinheit und austauschbaren Modulen. Ein Modul ist für Accelerating Rate Calorimetry (ARC) vorbereitet, ein zweites wird für Scanning-Tests (Scanning Modul) herangezogen und ein drittes ist auf die Batterieprüfung von Knopfzellen (Knopfzellen-Modul) ausgelegt.MMC nimmt eine Sonderstellung ein, da es sowohl für Screeningverfahren (Scanning-Modul) als auch für Accelerating Rate Calorimetry (ARC)Die Methode, die isotherme und  adiabatische Testverfahren beschreibt, wird zur Detektion  thermisch induzierter  Zersetzungsreaktionen eingesetzt. Das Standardverfahren ist Heat-Wait-Search (HWS.ARC®-Tests (ARC®-Modul) eingesetzt werden kann. 

Das Standard-Test-Protokoll für ARC®-Messungen nennt sich Heat-Wait-Search [11]. Dabei wird die Probe stufenweise aufgeheizt und in einer jeweils dazu gehörenden Wartephase auf Selbsterwärmung überprüft (siehe Graphik). Wird ein bestimmter Schwellwert der Selbsterwärmung (meist 0,02 K/min) überschritten, wechselt das Messsystem in den Tracking-Modus und misst den auftretenden Temperaturanstieg.

Schematischer Verlauf eines Heat-Wait-Search (HWS)HWS ist die Bezeichnung für eine Sequenz, die die Probe auf eine bestimmte Temperatur aufheizt (Heat), eine thermische Stabilisierung des Systems ermöglicht (Wait) und schließlich erkennt (Search), ob ein Anstieg der Probentemperatur festgestellt wird, der durch eine exotherme Zersetzungsreaktion der Probe verursacht wird.Heat-Wait-Search-Experiments [12]

Gemäß ASTM E1981 [11] kann aus dem beobachteten Temperaturanstieg ΔTobs durch Multiplikation mit der thermischen Trägheit (oder dem Phi-Faktor) ΔTad und daraus wiederum durch Multiplikation mit der Wärmekapazität des Probencontainers die freigesetzte Wärmemenge bestimmt werden.

TMR24h oder TD24 lässt sich auf Basis verschiedener kinetischer Modelle berechnen.

Mit der neuen Software Termica Neo kann das thermische Verhalten von Chemikalien in großen Volumina (Reaktoren, Silos, etc.) simuliert werden..

Webinars:

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Thermal Safety Studies for Chemical Processes

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Kinetic Methods for TD24 in Thermal Risk Assessment of Chemical Processes

Verweise:

Literature:

[1]          https://en.wikipedia.org/wiki/2020_Beirut_explosion

[2]          K. Hungerbühler, Risk Analysis of Chemical Processes and Products, lecture, FS 2017
                https://ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/chab/icb/set-dam/documents/downloads/risk-analysis17/2017-05-16-Part5.pdf 

[3]          Article in the GEO magazine (German language) from Jan. 13, 2023;                 https://www.geo.de/wissen/weltgeschichte/katastrophe-von-bhopal-1984--das-schwerste-chemieunglueck-aller-zeiten-32733526.html

[4]          https://de.wikipedia.org/wiki/Sevesounglück

[5]          A. Dakkoune, L. Vernières-Hassimi, S. Leveneur, D. Lefebvre and L. Estel; Analysis of Thermal      Runaway Events in French Chemical Industry, HAL Id: hal-02314230,
                https://normandie-univ.hal.science/hal-02314230

[6]          H. Zhang, M. Bai, X. Wang, J. Gai, Chi-Min Shu, N. Roy, Yi Liu, Thermal Runaway Incidents – a    Serious Cause of Concern: An Analysis of Runaway Incidents in China, Process Saf Environ         Prot, Vol. 155, 2021, p 277 – 286

[7]          Improving Reactive Hazard Management; Hazard Investigation Report; United States    Chemical Safety Board, 2002. https://www.hsdl.org/?view&did=234839

[8]          F. Stoessel, Thermal Safety of Chemical Processes, Wiley-VCH, 2008

[9]          F. Stoessel, EPSC Award Lecture, Leverkusen, 6. Oktober 2020
                https://epsc.be/About+Us/EPSC+Award/_/Award_2020_Presentation.pdf

[10]        P. Sharrat, S. Shaik, Institute of Chemical & Engineering Sciences, lecture within the Chemical    Reaction Safety Workshop, Technical Process Safety Seminar, Singapore, August 19, 2019
                https://www.icheme.org/media/12371/w1-icheme-tpsseminar-chemrxnsafetywrkshp-aug2019.pdf

[11]        ASTM E1981 - 22, Standard Guide for Assessing Thermal Stability of Materials by Methods of     Accelerating Rate Calorimetry

[12]        NETZSCH Onset 26, 2023